September 1943 bis April 1945
Von Zwangsarbeit zum Todesmarsch
Sie wollte sich selbst beweisen, dass sie noch ein Mensch ist. Sie wollte einmal satt sein. Also hat Erna ihre Ration Brot vom Vortag in einem Beutel aufbewahrt – das war eigentlich ihr Zahnbürstenbeutelchen. Dann hätte sie am nächsten Tag die doppelte Ration, auch wenn sie am Tag vorher hungern musste. Als sie schlafen ging, legte sie den Beutel unter ihr Kopfkissen.
»Und am Morgen greife ich hinter mein Kopfkissen, da war das weg. Gestohlen. Ich kann gar nicht sagen, was für Gefühle ich hatte. Einerseits war ich todtraurig und andererseits wütend, weil ich an den dachte, der mich bestohlen hatte.«
Dann wurden Erna und ihre Mithäftlinge zur Arbeit gerufen. Erna sollte die Walze ziehen, dabei hatten sich viele Frauen die Füße verletzt. Es war ihr Geburtstag, sie war schon bestohlen worden und jetzt sollte sie die Walze ziehen? Das hat sie nicht eingesehen. Sie weigerte sich innerlich und suchte eine Lösung. Aber Erna durfte nicht erwischt werden – Arbeitsverweigerung wurde mit Prügel bestraft. Auf einmal ging eine Gruppe vom Krankenrevier vorbei. Erna überlegte eine Sekunde und mischte sich unter die Gruppe. Und sie wurde nicht erwischt.
»Wenn ich heute daran denke, da bin ich ganz heilfroh, dass ich das getan habe. Ich habe mir einmal wieder bewiesen: Ich bin noch ein Mensch, ihr habt nicht über mich zu befehlen!«
»Und unser Block hat gehungert, aber wir haben auch Weihnachten überstanden und hofften, hofften, hofften. Also, wenn die Hoffnung nicht gewesen wäre und die Nachrichten von außen, dann wäre es zum Verzweifeln gewesen. Und dann endlich, im April, sagte ein Aufseher: ›Geht in den Block und holt eure sieben Sachen!‹«
Das Kriegsgeschehen und die Fronten rückten immer weiter ins Deutsche Reich hinein. Es war der 21. April 1945, zu diesem Zeitpunkt hatten die alliierten Truppen bereits mehrere Konzentrations- bzw. Vernichtungslager im Osten wie im Westen befreit. Erna und ihre Mithäftlinge wurden deshalb auf einen Todesmarsch geschickt. Gemeinsam mit männlichen Häftlingen aus dem KZ Sachsenhausen wurden sie durch Mecklenburg in Richtung Ostsee geschickt. Sie wussten: Wenn sie zu schwach waren, um weiterzulaufen, wurden sie erschossen.
Sie liefen tagelang, nachts schliefen sie in Straßengräben. Erna war müde und hungrig. Sie hielt sich mit zwei Freundinnen wach und die Drei machten sich gegenseitig Mut. An einem Tag gewährte die SS dem Trupp eine Pause. Aber kaum eine Stunde nachdem Erna sich hingelegt hatte, wurden sie wieder aufgescheucht. Die sowjetischen Truppen waren in der Nähe – also mussten sie schnell weiterlaufen. Erna konnte nicht mehr, sie wollte nicht mehr. Nur auf das Drängen ihrer Freundinnen hin ließ sie sich überzeugen, weiterzugehen.
»Mit hängenden Köpfen und schleppenden Füßen sind wir da geschlurrt über die Straßen. Und der Zug hat sich immer weiter auseinandergezogen und das ging vielleicht eine Stunde und wir konnten nicht mehr, die Füße taten mir weh, alles tat mir weh. Und schlapp war man. Und auf einmal sehen wir, dass vor uns die Frauen lachen, weinen, sich umarmen. Da kommt ein amerikanischer Jeep auf uns zu und die Soldaten winken, da haben wir begriffen, wir sind plötzlich frei. Wir stehen auf der Straße und sind plötzlich frei.«