November 1938
Die Novemberpogrome
Die Familie war gerade beim Frühstück, als es unerwartet an der Wohnungstür klopfte. Erna und ihre Mutter gingen vorsichtig hin – sie erwarteten immer das Schlimmste. Vor der Tür stand ein ehemaliger Fahrer ihres Speditionsbetriebes. Er erzählte, dass eine grölende Menge durch die Stadt ziehen, die Schaufenster jüdischer Geschäfte einschlagen und die Läden plündern würde. Er wollte die Familie warnen. Ernas Mutter wollte daraufhin weder Erna noch ihren Cousin aus der Wohnung lassen. Das Problem an der Sache: Erna war in der Woche dafür verantwortlich, den Schlüssel der Wäschenäherei abzuholen und den Laden aufzuschließen. Ernas Cousin wollte unbedingt zur Schule. Tatsächlich konnten die beiden die Mutter dann doch überreden.
Bereits im Sommer 1938 wurde die jüdische Gemeinde in Kaiserslautern zum Verkauf ihrer Synagoge gezwungen. Kaiserslautern sollte Gauhauptstadt werden, und in der neuen Stadtplanung hatte die Synagoge keinen Platz mehr. Der Bürgermeister nutzte dies als Vorwand, um die Synagoge abreißen zu lassen. Am 27. August 1938 wurde der letzte Gottesdienst dort gefeiert, der Abriss der Synagoge begann am 29. August 1938.
Erna lief durch Kaiserslautern, vorbei an der zerstörten Synagoge, zu ihrem Chef. Der konnte noch mehr zur ganzen Situation erzählen: In ganz Deutschland würden Synagogen brennen und jüdische Männer ab 16 Jahren verhaftet werden. Er gab ihr die Schlüssel und sie ging weiter. Als Erna an der Wäschenäherei ankam, warteten ihre Kolleg*innen schon auf sie. Sie hatten alle Schreckliches auf ihrem Arbeitsweg gesehen.
Erna und ihre Kolleg*innen gingen zu ihrem Arbeitsplatz, aber es war kein normaler Arbeitstag. Es war eine komische Stimmung im Raum. Kaum eine Stunde später wurden sie nach draußen gerufen und zwei Uniformierte riefen ›Juden raus, Juden raus!‹. Erna bekam es mit der Angst zu tun, sie war damals 15 Jahre alt. In dem Moment hatte sie nur einen Gedanken: Was war mit ihrer Mutter?
Erna rannte nach Hause. Dort angekommen traf sie auf ihre Mutter, die voller Angst um die Kinder schon ganz apathisch war. Kurz darauf kam auch der Cousin nach Hause gerannt, weinend und ängstlich. Er erzählte, dass große, ältere Jungen in den Raum der Sonderklasse eingedrungen seien. Sie hätten den Lehrer und die Schüler*innen die Treppe runter gejagt. Unten im Hof hätten die anderen Klassen schön säuberlich aufgereiht gestanden und gerufen: »Wir wollen keine Juden hier! Wir wollen keine Juden hier!«
Was sollten Erna und ihre Familie nun tun? Erna überlegte.
»Ich wollte auf keinen Fall dabei sein, wenn man unser Haus zerstört, wenn man unsere ganze Einrichtung zerschlägt und ich wusste mir keinen Rat. Und ich schlug dann vor, mein Vater war ja Nicht-Jude, er war aber tot, konnte uns nicht mehr helfen. Aber das schien mir die einzige Möglichkeit, um eine gewisse Sicherheit zu haben. Ich hab gesagt, wir gehen zum Friedhof zu Vaters Grab.«
Es war ein trüber, nebliger und verregneter Novembertag. Erna, ihr Cousin und ihre Mutter saßen am Grab. Vom Regen waren sie schon klatschnass. Wie lange sollten sie da warten? Erna wurde unruhig. Wenn sie zu lange dort sitzen blieben, würden sie mit Sicherheit noch krank werden. Sie wollte zurück nach Hause, ins Trockene. Egal, wie es in der Wohnung aussehen würde. Ihre Mutter hielt sie fest, aber Erna riss sich von ihr los.
Sie rannte zur Wohnung. Der Hof stand voller Menschen, die Haustür hing nur noch lose im Rahmen, die Fenster waren eingeschlagen. Von innen hörte Erna es noch krachen und knallen.
Neben ihr stand eine Frau. Erna kannte sie. Die hatte sie ständig angefeindet. Sowas gerufen wie: ›Seid ihr Juden immer noch da?‹. Jetzt stand sie neben ihr, als Ernas Zuhause zerstört wurde. Erna wollte stark sein, keine Schwäche zeigen. Aber ihr liefen die Tränen übers Gesicht.
»Und da schrie diese Frau: ›Jetzt heult sie! Jetzt heult sie! Schmeißt sie rein in den Krempel, schmeißt sie rein in den Krempel!‹ Ich dachte, jeden Moment nimmt mich jemand und schmeißt mich da wirklich rein.«
Aber das passierte zum Glück nicht. Irgendwann wurde es leise im Haus. Dann kamen die Übeltäter*innen raus und gingen weg, alle Zuschauenden folgten – sie zogen weiter, vermutlich um das nächste Haus zu zerstören. Erna ging zurück zum Friedhof und holte ihre Mutter und den Cousin. Die Luft war rein. Fürs erste.
Als Ernas Mutter die Wohnung betrat und die Zerstörung sah, brach sie zusammen. In der Küche wurde das Essen an die Wände geschmissen. Im Schlafzimmer waren die Marmorplatten des Waschtischs und der Nachttische zerschlagen. Der Spiegel vom Waschtisch war zerbrochen. Der Kleiderschrank lag gekippt auf den Betten. Die Decken, Kissen und Matratzen waren aufgeschlitzt. Es war alles zentimeter hoch unter Wasser gesetzt, der ganze Teppichboden. Im Esszimmer lag zerbrochenes Geschirr auf dem Boden. Die Bilder waren von den Wänden gerissen, die Sofas aufgeschnitten. Alles war zerstört. In jedem Zimmer.
»Und was ich nie vergessen kann, in dieses ganze Chaos hinein kam wirklich eine Nachbarin und brachte uns etwas Heißes zu trinken und etwas zu essen. Ging aber sofort wieder weg, weil wenn jemand die Juden kontaktiert, konnte es passieren, ihr Mann war Lokomotivführer, dass der unter Umständen eine Kündigung gekriegt hätte.«
Kaum war die Nachbarin weg, klingelte es wieder an der Tür. Draußen stand ein Beamter. Er teilte Erna mit, dass alle als Juden*Jüdinnen Verfolgten bis zum Abend den Gau Saarpfalz verlassen müssten. Die Familie beschloss, nach Köln zu gehen, zum Bruder von Ernas Mutter Jeanette. Sie bekamen einen Koffer von der Nachbarin und Erna packte alles ein, was sie finden konnte. ›[...] nass, trocken, das war mir egal‹.
Die drei kamen bei der Familie in Köln an. Ernas Onkel war heilfroh, dass ihnen nichts passiert war. Aber wie es in ihrem Inneren aussah, konnte er nicht erahnen.
Das Gespräch zum Nachlesen
Bernadette: Domenic, was ich ja echt nicht verstehe, ist, dass die Menschen immer noch ›Reichskristallnacht‹ sagen. Ich les und hör das immer wieder, in Zeitungen, Medien, überall.
Domenic: Ja, auch in der Wissenschaft war der Begriff neben anderen NS-Begriffen, wie ›Drittes Reich‹, lange Zeit total geläufig. Warum findest du das nicht angemessen?
Bernadette: Naja, das ist doch voll der beschönigende Begriff für das, was passiert ist. Ich erinnere mich, dass das ›Kristall‹ in ›Reichskristallnacht‹ daher kommt, dass die Scherben der eingeschlagenen Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäfte auf der Straße so schön geglitzert haben sollen – wie Kristalle eben. Ich find das total unangebracht. Das verharmlost die Ereignisse krass.
Domenic: Das kann ich verstehen. Tatsächlich gab und gibt es auch bei diesem Begriff, so wie bei den Begriffen um die Machtübergabe, Diskussionen unter der Historiker*innenschaft. Der Begriff ›Reichskristallnacht‹ wird in der Regel nur distanziert mit Anführungszeichen verwendet oder vor allem im deutschen Kontext ganz abgelehnt. Weil er, eben genau wie du sagtest, als euphemistisch empfunden wird. Es gibt auch den Begriff ›Reichskristallnacht‹. Der wird oft als ungenau und vereinfachend wahrgenommen und deshalb nicht so genutzt. In der modernen Geschichtswissenschaft wird inzwischen meist der Begriff Novemberpogrome verwendet. Der soll sachlich sein und zeigt auch die zeitliche Dimension des Ereignisses auf.
Bernadette: Ergibt Sinn, weil die Ausschreitungen ja länger dauerten als nur eine Nacht und viele als Juden*Jüdinnen Verfolgte dann auch nach dieser Nacht in einem KZ inhaftiert und dort ermordet wurden.