Juli bis September 1943
Freiwillig ins Vernichtungslager
Erna war bei der Arbeit, als ein Nachbar draußen stand und sie sprechen wollte. Er erzählte Erna, dass ein Auto mit Saarbrücker Kennzeichen vor ihrem Haus stünde und zwei uniformierte Männer hinein gegangen seien. Erna raste mit ihrem Rad nach Hause. Dort angekommen, erfuhr sie von der geplanten Deportation ihrer Mutter. Zu Erna sagte der Gestapobeamte: »Nein, Sie nicht, nur Ihre Mutter.« Erna hat auf ihn eingeredet – sie wollte ihn umstimmen, um bei ihrer Mutter bleiben zu können:
»Kaiserslautern möchte judenrein werden, dann haben sie ja noch eine Jüdin weniger, lassen sie mich doch.«
Es blieb bei einem ›Nein‹ – zunächst. Erna wollte ihre Mutter unter keinen Umständen alleine lassen, aber es schien, als bliebe ihnen nichts anderes übrig. Sie verabschiedeten sich und weinten bitterlich. Beide ahnten, sie würden sich nicht wiedersehen. Dann beschloss der Gestapobeamte, dass Erna doch mitfahren durfte. Zumindest bis nach Saarbrücken. Dort kamen sie im Gefängnis Lerchesflur an. Zuerst gab der Beamte der Gefängniswärterin einen Passierschein für die Deportation von Ernas Mutter. Dann sagte er, dass er den Schein für Erna morgen bringen würde. Er hatte sich also doch umstimmen lassen.
»Am nächsten Morgen bin ich dann zur Gestapo gerufen worden und kam zu einem Herrn Zöller, Zöllner, Züller, ich weiß nicht mehr genau. Jedenfalls er fragte mich: ›Sie wollen also mit Ihrer Mutter?‹ Ich sagte ja. ›Wissen Sie, wo Ihre Mutter hinkommt?‹ Das konnt ich nicht wissen. ›Ihre Mutter kommt nach Auschwitz.‹ Oh, das war ein Schlag für mich, denn ich wusste ja wohl, was Auschwitz bedeutet.«
Schon seit drei Jahren, seit dem 23. September 1939 war es verboten, als jüdisch verfolgter Mensch ein Radio zu besitzen. Aber Ernas Mutter hat ihr Radio behalten und es in einem Kissenbezug im Schrank versteckt. Das hatte Erna schon kurz darauf gefunden und festgestellt, dass sie abends deutschsprachiges BBC hören konnte. Deshalb wusste Erna in dem Moment genau, was Auschwitz bedeutete.
Content Note: Im nächsten Zitat geht es um Gewalt und tote Menschen. Wenn es Dir damit nicht gut geht, mach zwischendurch eine kurze Pause, hol dir eine*n Partner*in oder lies zu einem späteren Zeitpunkt weiter.
»Und dann hab ich ganz schreckliche Berichte gehört, also ich wusste sehr wohl, was Auschwitz ist, zum Beispiel: ›Heute kam ein Zug mit so und so viel Waggons in Auschwitz auf der Rampe an, der Zug war fünf Tage unterwegs in der glühenden Hitze, die Menschen kriegten nichts zu essen. Aus dem Osten, Menschen kriegten nichts zu essen, nichts zu trinken, und mussten sich in einer Ecke des Zuges entleeren, und als der Zug auf der Rampe ankam und man die Türen öffnete, die Waggontüren, fielen die Toten heraus und die Handvoll, die noch lebte, lief oben drauf, und die erschoss man.‹«
Als Erna und ihre Mutter in Auschwitz ankamen, wurden sie auf einen Lastwagen geladen und fuhren durch das Stammlager Auschwitz I nach Auschwitz II Birkenau. Das war das Nebenlager, das eigentliche Vernichtungslager. Sie fuhren vorbei am morgendlichen Zählappell der Männer. Sie standen aufgestellt in grau-blau gestreifter Häftlingskleidung. Für Erna war das ein sehr bedrückender Anblick, an den sie sich wohl oder übel gewöhnen musste. Zu diesem Zeitpunkt war sie 19 Jahre alt.
In Auschwitz-Birkenau wurden Erna und ihre Mutter in die Erstaufnahme gebracht, ein großer Raum, der auch ›Sauna‹ genannt wurde. Dort mussten sie ihre Koffer, ihr gesamtes restliches Hab und Gut abgeben. Sie mussten sich vor den Wärter*innen nackt ausziehen und ihre Kleidung abgeben. Ihnen wurden alle Körperhaare abrasiert. Dann wurden sie mit »einer trüben Brühe« desinfiziert. Anschließend wurde ihnen eine Nummer auf den Arm tätowiert. Sie bekamen Kleidung, die viel zu groß, viel zu klein, zu eng, zu weit sein konnte. Alles war schon alt und abgetragen, die Kleidung wurde wohl von anderen Häftlingen mitgebracht.
Zunächst mussten Erna und ihre Mutter in den sogenannten Quarantäneblock, damit keine Krankheiten ins Lager gebracht werden konnten. Vier Wochen lang waren sie dort. In dieser Zeit mussten Erna und ihre Mutter keine Zwangsarbeit leisten – immerhin. Das war aber das einzige, was besser war als im restlichen Lager. Sie mussten tagsüber nach draußen, auf eine Wiese, auf der kein Gras wuchs. Es gab dort weder Schatten noch Wasser. Zu Essen gab es ausgekochte Kartoffelschalen, ab und zu das Reststück von Rüben. Erna merkte schon, dass es ihr immer schlechter ging.
»Und wir kriegten kein Wasser oder irgendwas zu trinken tagsüber, wir kriegten morgens etwas, das nannte sich Tee, das war ausgekochtes Gras. Die Leute, die Häftlinge sollten Kräuter pflücken. Wenn sie keine fanden, mit etwas mussten sie zurückkommen, dann haben sie Gras gepflückt. Und das wurde uns gekocht als Tee, na wie das schmeckte das kann man sich vielleicht vorstellen.«
Nach vier Wochen kamen sie dann in einen anderen Block. Die Baracke war unterteilt wie ein Pferdestall, in jedem Abteil lagen bis zu sechs Menschen. Erna lag da mit ihrer Mutter, einer anderen Mutter und ihrer Tochter. Sie hatten eine Steppdecke zum Zudecken. Das muss früher eine richtig schöne, seidene Steppdecke gewesen sein. Jetzt war sie zerrissen und voller Ungeziefer.
»Läuse, Flöhe, Wanzen, alles was man sich denken kann.«
Erna hat an den Wanzenbissen gekratzt, bis sich alles entzündet hat. Vor allem durch ihre Arbeit wurde das nicht besser: Sie musste in einen modrigen Fischteich steigen, um Schilf zu holen. Das Wasser stand ihr bis zu den Achseln. Sie trug die Kleidung, mit der sie sich auch später schlafen legen musste. Alles stank und war feucht, die Klamotten wurden nie ganz trocken.
Und allein der Arbeitsweg war eine Qual. Um zum Teich zu kommen, mussten sie jeden Tag vom Block aus eineinhalb Kilometer mit unglaublich unbequemen Holzschuhen gehen. Auf dem Weg mussten sie an zwei Krematorien vorbei laufen.
Nach fast zwei Monaten in Auschwitz mussten Erna und ihre Mutter am 15. September 1943 zur Selektion. Sie mussten sich ausziehen und an einem Arzt vorbeigehen. Der entschied dann, was mit den Menschen passierte. Erna litt an einer Phlegmone, sie hatte ganz eitrige Wunden an den Beinen. Und sie wurde deswegen in Block 25, den Todesblock verlegt. Sie wusste, sie würde die nächsten Tage nicht überleben.
»Auf Block 25 brannte die ganze Zeit das Licht, wir kriegten nichts mehr zu essen, wir durften auch nicht mehr zu den Latrinen, zu dem Zweck standen im ganzen Block verteilt Eimer, wo die Frauen sich drauf entleeren mussten. Der Block war so voll, ich habe keinen Platz mehr gefunden zum Stehen, zum Liegen schon mal gar nicht, und ich bin dann schließlich unter so eine Koje gekrochen.«
Am nächsten Morgen wurde das Barackentor aufgerissen, Autos fuhren vor und es wurde geschrien »Los, los, auf die Autos!« Es brach Panik bei den Häftlingen aus, sie weinten, warfen sich zu Boden und rauften sich die Haare, wenn sie welche hatten. Die Frauen wurden auf die Autos geprügelt, gezerrt und gestoßen. Es herrschte das pure Chaos. Und Erna war mittendrin. Sie ließ sich auf den Boden fallen und begann zu beten. In diesem Moment hatte sie nur einen einzigen Wunsch: Sie wollte noch einmal in ihrem Leben die Sonne sehen. Und wie durch ein Wunder öffneten sich die Wolken.
»Und ich war ganz getröstet, ich hab die Sonne gesehen, ich hab nicht geschrien und nichts.«
Auf einmal hörte Erna, wie ein SS-Mann ihre Nummer aufrief. Erna ging zu ihm und er schubste sie wieder in den Block. Erna verstand nicht, was passierte.
»Ich kam da rein, draußen das Tohuwabohu, das Geschrei, die Panik von dem Menschen, der Schrecken, und drinnen war es totenstill. Ich denke, der Block ist leer, da kam auf einmal eine Frau auf mich zu, ganz weiß im Gesicht, ganz eingehüllt in eine Decke und sagt: ›Kommst du auch nach Ravensbrück?‹«
Weil Erna sogenannte ›Halbjüdin‹ war, sollte sie nun nicht getötet werden, sondern Zwangsarbeit im KZ Ravensbrück leisten. Aber sie wollte Auschwitz nicht verlassen, bevor sie nicht nochmal ihre Mutter sehen konnte. Sie ging los und suchte ihre Mutter. Beide waren überglücklich, als sie sich gefunden hatten. Sie liefen zusammen ein Stück der Lagerstraße runter, bevor sie sich verabschiedeten. Und das war der Moment, in dem Ernas Mutter ihr den Auftrag gab, der Ernas gesamtes Leben bestimmen sollte:
»Du wirst überleben und wirst erzählen, was sie mit uns gemacht haben.«
Beide weinten. Sie wussten, sie würden sich nie wieder sehen. Ernas Mutter, Jeanette Korn, wurde am 8. November 1943 ermordet. Das genaue Datum erfuhr Erna aber erst viele Jahre später.
Das Gespräch zum Nachlesen
Bernadette: Wir hören ja immer wieder, dass die Menschen, die nicht von den Nazis verfolgt wurden, gar nichts gewusst hätten, von dem, was passiert ist. Jetzt mal ehrlich, Domenic: Wie viel konnte die deutsche, nicht verfolgte Bevölkerung von den nationalsozialistischen Verbrechen wissen?
Domenic: Das ist eine gute Frage und lässt sich tatsächlich nicht so leicht beantworten. Was klar ist: hochrangige Beamte im NS-Staat, aber auch einfache Angehörige der SS und des Sicherheitsapparates wussten viel über die Ereignisse des Holocausts bzw. planten und führten diesen durch. Viele behaupteten nach 1945, sie hätten nichts gewusst. Diese Aussagen lassen sich eindeutig widerlegen.
Bernadette: Und was ist mit der breiten Bevölkerung? Die haben ja die Novemberpogrome 1938 mitbekommen, die zunehmende Entrechtung und Ausgrenzung schon ab 1933. Und später die Deportationszüge können ja auch nicht einfach unbemerkt durch das Land gefahren sein.
Domenic: Die nicht-jüdische Bevölkerung war nicht so unwissend, wie sie sich nach 1945 gegeben hat. Hitler sprach im Januar 1939 öffentlich vom Vorhaben, im Falle eines Weltkriegs alle als Juden*Jüdinnen Verfolgten in Europa zu vernichten. Die Bevölkerung wusste eventuell nicht genau, welche Ausmaße, welche Systematik die Vernichtung der als Juden*Jüdinnen Verfolgten hatte oder welche Methoden eingesetzt wurden. Aber es gab Berichte: Zum Beispiel die Erzählungen von Frontsoldaten auf Heimaturlaub, die Massenerschießungen mitbekommen oder durchgeführt haben. Es gab von den Alliierten abgeworfene Flugblätter oder deutschsprachige Radioberichte von sogenannten ›Feindsendern‹ wie der BBC ab Sommer 1942, die vom Massenmord berichtet haben. Und ja, als Juden*Jüdinnen Verfolgte wurden vor Deportationen häufig in aller Öffentlichkeit als große Gruppe durch deutsche Städte zu deren Bahnhof bzw. zu sogenannten Sammellagern getrieben.
Bernadette: Das heißt also, alle deutschen, nicht-verfolgten Menschen konnten auf verschiedenen Wegen über den stattfindenden Holocaust erfahren. Sie hätten Gerüchte, Nachrichten und Ankündigungen des NS-Regimes zusammenzählen können; aus heutiger Sicht zusammenzählen müssen. Deportationen oder Zwangsarbeit konnten sie mit eigenen Augen sehen. Sie schauten also lieber bewusst weg, nicht so genau hin oder haben den Holocaust sogar befürwortet. Aber wurde denn auch damals schon der Holocaust geleugnet? Oder ist das eher ein negativ-Phänomen der Gegenwart?
Domenic: Naja, zumindest in Ansätzen könnte man schon während des Holocausts von dessen Leugnung sprechen. Einerseits hat das NS-Regime alles getan, um die Verbrechen so gut es geht geheim zu halten und vor allem alle Beweise zu vernichten, um die Täter*innen zu decken und die Erinnerung an die Ermordeten zu beseitigen. Andererseits haben nicht-verfolgte Deutsche versucht, sich von Schuld frei zu sprechen. Täter*innen haben sich als unwissend oder unschuldig bezeichnet – und das ist ihnen leider zu häufig geglaubt worden, sodass sie nicht bestraft wurden. In der Nachkriegszeit gab es dann alte und neue Formen der Holocaust-Leugnung und Relativierung.
Bernadette: Stimmt, Neonazis leugnen ja einfach auch heute noch den Holocaust, und im Zuge der Querdenken- und Corona-Demos haben wir eine neue Form der Holocaust-Relativierung gesehen. Als ob Nicht-geimpfte sich ernsthaft mit als Juden*Jüdinnen Verfolgten gleichstellen könnten. pff.