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1933 bis 1938

Ausgrenzung im Alltag

Nun bekam Erna zu spüren, dass ihr Jüdischsein wohl doch eine große Rolle spielte. Auch wenn Antisemitismus nicht erst von den Nazis erfunden wurde, spitzte sich dieser in der Zeit von 1933 bis 1945 massiv zu. Die Diskriminierung von Juden*Jüdinnen wurde vom Staat nicht nur gestattet, sondern gezielt eingesetzt.

Erna erlebte ab 1933 Diskriminierung und Ausgrenzung. Sie berichtet davon, dass sich die Machtübergabe an die Nationalsozialist*innen bei der Familie finanziell bemerkbar machte. Die nationalsozialistische Regierung rief die Bevölkerung umgehend dazu auf, jüdisch geführte Geschäfte, Arztpraxen, Kanzleien … zu boykottieren. Erna erzählte, dass sich wichtige Kund*innen vom Speditionsbetrieb ihrer Familie abwandten und sie immer weniger Einkommen hatten. Zwei Jahre lang konnte Ernas Mutter den Betrieb noch halten. Im Jahr 1935 erhielt sie keine neue Lizenz – Ernas Mutter musste das Geschäft abgeben und die Familie von da an vom Ersparten leben. 

Außerdem bekam Erna die Diskriminierung und Ausgrenzung auch persönlich zu spüren. Seit 1933 wurden verschiedene antijüdische Gesetze und Verordnungen erlassen und im September 1935 dann die sogenannten ›Nürnberger Gesetze‹ verabschiedet. Diese waren für als Juden*Jüdinnen Verfolgte sehr einschneidend. Erna durfte zum Beispiel nicht mehr im Turnverein sein und musste die Schule wechseln. Sie kam zunächst auf das von Franziskanerinnen geleitete Gymnasium in Kaiserslautern. Dort hat sie sich sehr wohl gefühlt, denn alle wurden gleich behandelt – ganz unabhängig von ihrer Religion. Aber Erna wurde außerhalb der Schule immer häufiger angefeindet und das wirkte nach.

›Nürnberger Gesetze‹ und antijüdische Gesetze und Verordnungen

Die ›Nürnberger Gesetze‹ sind eine Sammelbezeichnung für verschiedene Gesetze, die am 15. September 1935 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg beschlossen wurden. Die Grundlage für die Gesetze bildete die Rassentheorie aus dem 19. Jahrhundert, die Menschen in verschiedene ›Rassen‹ einteilt. Die Nationalsozialist*innen verstanden sich als sogenannte ›Arier‹ bzw. ›Herrenrasse‹, die allen anderen überlegen sei. Menschen die angeblich nicht dieser ›Rasse‹ angehörten, zum Beispiel als Juden*Jüdinnen Verfolgte, sahen sie als minderwertig an.

Das ›Reichsbürgergesetz‹ legte fest, wer laut der Nationalsozialist*innen ›arisch‹ und wer ›jüdisch‹ sei. Als Juden*Jüdinnen Verfolgte wurden durch das Gesetz zu Staatsangehörigen abgewertet, die deutlich weniger Rechte hatten als Reichsbürger*innen. Das sogenannte ›Blutschutzgesetz‹ verbot Ehen zwischen jüdischen und christlichen Partner*innen.

Insgesamt erließen die Nationalsozialist*innen bis 1945 über 2.000 antijüdische Gesetze, Erlasse und Maßnahmen im Deutschen Reich und jedem von ihnen besetzten Staat. Als Juden*Jüdinnen Verfolgte durften zum Beispiel keine öffentliche Verkehrsmittel benutzen, bekamen nur noch begrenzt Lebensmittel und mussten ihr Zuhause verlassen und in sogenannten ›Judenhäusern‹ leben.1

»Ich hatte ganz gute Zeugnisse, aber durch die Anfeindungen außerhalb, zum Beispiel wenn wir mit Kindern spielten und es kam eine kleine Differenz auf, dann hieß es gleich: ›Ich spiel nicht mit dir, du bist n Jude!‹. ›Jude, Jude!‹, das hörte man immer wieder, und das dann als Schimpfwort gebraucht zu hören, das war für mich ganz schrecklich.«

Hör in das Gespräch zwischen Bernadette und Domenic rein, um mehr darüber zu erfahren, wer von den Nationalsozialist*innen als jüdisch verfolgt wurde.

Das Gespräch zum Nachlesen

Bernadette: Also es ist ja so krass, dass Erna als jüdisch verfolgt wurde, weil ihre Mutter jüdisch war. Erna hat sich ja gar nicht dafür interessiert. Das wirkt so willkürlich!

Domenic: Voll. Die Nationalsozialist*innen definierten selbst, wer ihrer rassistischen Ideologie nach Jude*Jüdin war und damit der Verfolgung ausgesetzt wurde. Deshalb benutzen wir die Bezeichnung ›als Juden*Jüdinnen Verfolgte‹. Das traf eben auch Menschen, die sich selbst gar nicht als jüdisch in einem religiösen Sinne verstanden haben. Die Nationalsozialist*innen verfolgten Menschen vor allem abhängig davon, ob ihre Großeltern und Eltern als jüdisch eingestuft wurden.

Bernadette: Ja wie bei Erna – ihr war es ja relativ egal, jüdisch zu sein. Ich erinnere mich auch gerade – Menschen wurden ja zum Beispiel sogar als Juden*Jüdinnen verfolgt, wenn sie christlich getauft waren. So war das ja bei Schwester Johanna, einer anderen Zeitzeugin, mit der unser Verein gesprochen hat.

Domenic: Ja, da gab es im Nazirecht ab den Nürnberger Gesetzen verschiedene Abstufungen. Erna galt als sogenannt ›halbjüdisch‹ – mit dicken Anführungszeichen – weil ihre Mutter jüdisch und ihr Vater nichtjüdisch war. Heute wissen wir, dass es keine menschlichen Rassen gibt. Aber die Ideologie der Nationalsozialist*innen basierte auf dem Gedanken von verschiedenen und unterschiedlich wertigen menschlichen sogenannten ›Rassen‹. Die Nationalsozialist*innen betrachteten Zugehörigkeit zu einer sogenannten Rasse als vererbbar. Mit den Nürnberger Gesetzen schufen die Nationalsozialist*innen verschiedene Einteilungen. Zum Beispiel als ›halbjüdisch‹ oder bei einem jüdischen Großelternteil als ›vierteljüdisch‹. Die Nationalsozialist*innen benutzten auch die Begriffe ›Mischling 1. Grades‹ und ›Mischling 2. Grades‹. Die Einteilung galt selbst, wenn die Kinder getauft waren. 

Bernadette: Andere Sache: Die Nazis haben ja noch mehr Menschen verfolgt als Juden*Jüdinnen – z.B. politische Gegner*innen, also vor allem Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, Menschen mit Behinderungen und ehm …

Domenic: Außerdem Sinti*zze und Rom*nja (oder auch ›Sinti und Roma‹ genannt), Zeug*innen Jehovas, Homosexuelle, als Slaw*innen bezeichnete Menschen aus Osteuropa und Menschen, die als sogenannte ›Asoziale‹ oder sogenannte ›Berufsverbrecher‹ galten. 

Bernadette: Echt ne lange Liste. 

Ihrer Mutter erzählte Erna nichts von den Anfeindungen. Sie wollte ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten, ihre Mutter musste sich schon genug Gedanken ums Geld machen. Sie also noch mehr belasten? Das konnte Erna einfach nicht. Die Diskriminierungserfahrungen wirkten sich aber leider auch negativ auf Ernas Schulnoten aus …

Weil das Geld immer knapper wurde und Ernas Mutter gezwungen war, an vielen Stellen zu sparen, musste Erna erneut die Schule wechseln. Sie kam 1936 in die sogenannte ›jüdische Sonderklasse‹ an der Röhmschule in Kaiserslautern. Dort war es sehr schwierig, vernünftig zu lernen: Insgesamt wurden 28 Schüler*innen von der ersten bis achten Klasse von einem Lehrer unterrichtet.

»Da hat die eine Klasse gesungen, die anderen mussten Aufsatz schreiben, die mussten Rechenaufgaben lösen, also es war nicht einfach.«

Erna besuchte diese Schule bis März 1938, dann wurde sie entlassen, weil ihre Schulpflicht offiziell zu Ende war. Sie war nun 14 Jahre alt und lebte noch in Kaiserslautern. Wie sollte es weitergehen? Sie hatte als junger, als jüdisch verfolgter Mensch ohne Abschluss nicht allzu viele Möglichkeiten. Aufgrund der antijüdischen Gesetzen durfte sie viele Berufe nicht aufnehmen. Erna hat dann angefangen, in einer zu diesem Zeitpunkt noch jüdisch geführten Wäschenäherei zu arbeiten.

Zwei Monate zuvor, im Januar 1938, bekamen Erna und ihre Mutter einen neuen Mitbewohner: Ernas Cousin. Seine Familie hatte einen Betrieb in Ostpreußen, konnte diesen jedoch nicht mehr halten. Sie haben deshalb eine Wohnung in Köln gesucht und die Erstbeste genommen, die sie bekommen haben. Die war nur leider viel zu klein für Ernas Tante, Onkel, zwei ältere Cousinen und den Cousin – weshalb er zu Erna und ihrer Mutter kam und die ›jüdische Sonderklasse‹ besuchte.

»(...) und das ging den ganzen Sommer 38 so, bis dann etwas geschah im Herbst, was ganz Deutschland ins Chaos stürzte.«

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