Minus oder Plus. Leben oder Tod.
Eine 3+ ist besser als eine 3-. Die meisten von uns freuen sich mehr über +10 Grad als über -10 Grad. In der Physik steht plus für positiv und minus für negativ. Schreibfaule benutzen im Chat plus für Zustimmung und minus für Ablehnung. In der Mathematik wird aus plus mehr und aus minus weniger. Zwei Zeichen, die unterschiedlich genutzt werden, und darin alltäglich sind.
Auf den Meldebögen der T4-Aktionen bedeutete plus Tod und minus Leben.
T4-Aktionen, Euthanasie, Krankenmorde – sie alle beschreiben die Ermordung von Menschen mit physischen und/oder psychisch Beeinträchtigungen in der NS-Zeit. Besonders geeignet sind alle drei Begriffe nicht. ›Euthanasie‹ ist altgriechisch und steht für ›guter, richtiger Tod‹. T4 leitet sich von der Tiergartenstraße 4 in Berlin ab – die Steuerungs- und Verwaltungszentrale der Verfolgung und Vernichtung. Eine Benennung der Taten fehlt in dem Begriff. ›Krankenmorde‹ übernimmt die Definition der Nazis die Ermordeten seien krank gewesen.
Die perfekte Sprache gibt es noch nicht. Doch das sollte kein Grund sein nicht darüber zu sprechen. Deswegen machten sich Anfang Januar Fans von Borussia Dortmund und dem 1. FC Köln gemeinsam auf den Weg nach Hadamar in Hessen, um die dortige Gedenkstätte für die Ermordeten der Euthanasie zu besuchen. Organisiert und gestaltet vom Verein Zweitzeugen e.V. und den Fanprojekten Dortmund und Köln standen drei Tage voller Erkenntnisse, Emotionen, Bestürzung, Diskussion und Austausch an.
Dabei wurde schnell klar, dass die Verfolgung und Ermordung von kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen nicht auf die Zeit der Nazi-Herrschaft begrenzt war. Schon im Ersten Weltkrieg verhungerten 70.000 Psychiatriepatient:innen, weil sie an das Ende der Versorgungskette gestellt werden. 1920 erschien Alfred Hoches und Karl Bindings ›Die Freigabe zur Vernichtung unlebenswerten Lebens‹. Die ideologische Grundlage, die später dazu führte, dass in den T4-Aktionen zehntausende Menschen ermordet wurden, weil sie als finanzielle Belastung, als ›Belastexistenzen‹ gesehen wurden.
Die strukturellen sogenannten ›Krankenmorde‹ wurden rückdatiert auf den 1. September 1939 von Hitler selbst in Auftrag gegeben. Doch sie unterstanden strengster Geheimhaltung. Alle Ärzte, Pfleger:innen, Busfahrer und weitere Täter wurden spezifisch ausgesucht und beauftragt. Noch davor, bereits ab 1934, wurde Eugenik zur Staatsdoktrin in Deutschland. Eugenik beschreibt die Denkweise, dass das ›völkische Erbgut‹ verbessert werden müsse, indem Menschen mit Krankheiten, Behinderungen oder besonderem Verhalten zwangssterilisiert würden. Dass fast keine der vermeintlichen ›Krankheiten‹ vererbbar ist, war für die (Nicht-)Logik der Nazis irrelevant. Aus Düsseldorf gibt es das Beispiel einer Frau, deren Scheidung und gefärbte Haare als Grund genommen wurden, um sie zu zwangssterilisieren.
Der Übergang von der Eugenik zur Euthanasie begann mit der Ermordung von Kindern mit Behinderungen 1939. Auf die Ausmerzung der ›Krankheiten‹ folgte die Ausmerzung der ›Kranken‹.
Wie willkürlich die Bezeichnung als ›krank‹ darin war, zeigen tausende Biografien von Opfern, darunter auch die von Gertud Stockhausen, 1900 geboren. Sie war eine Mutter von drei Kindern, die aufgrund der wechselnden Anstellungen ihres Ehemannes oft umziehen musste. Umzüge, die alleinige Erziehung der Kinder, die Erledigung des Haushalts und die fehlende Einbindung in soziale Beziehungen außerhalb der Familie führten im Winter 1932 zu einem Nervenzusammenbruch. Für ihren Ehemann, der später die Scheidung einreichte und in die NSDAP eintritt, war das Grund genug sie in die Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen bei Langenfeld einzuweisen. 1941 wurde sie von dort nach Hadamar verlegt und am 28. Mai 1941 in der Gaskammer ermordet. Wenn wir uns die Geschichte von Gertrud Stockhausen anschauen, finden wir davon in unserer heutigen Gesellschaft dutzende Beispiele, die dem ähneln. Und so ist es nicht nur bei Gertrud Stockhausen. Andere Diagnosen, die zur Ermordung in Hadamar führten, waren unter anderem Krampfanfälle, Lernschwierigkeiten, Trisomie 21, Gelbsucht, Depression nach Schicksalsschlägen. All die Menschen mit ähnlichen Besonderheiten, denen wir heute alltäglich begegnen, wären vor 84 Jahren von Ermordung in Hadamar bedroht gewesen. Denn im Sinne der Nazis war ihr Tod günstiger als ihr Leben.
Einem der Referenten, Frank, war es in dem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass die Euthanasie in keiner Kontinuität zur Eugenik stand, sondern aus der Logik der Kostensenkungen kam. Es ging also nicht darum, das ›völkische Erbgut‹, sondern vor allem die Staatskassen zu schützen. Das zeigen auch die Maßstäbe, die auf den Meldebögen ausschlaggebend waren, um ein Plus für Tod oder Minus für Leben zu setzen. Zentral waren neben Besuchssequenz, die Arbeitsleistung des/der Patient:in, Pflegeaufwand (also auch Kostenaufwand) und Aufenthaltsdauer. Die drei Gutachter, die die über Leben und Tod entschieden saßen in Berlin, ohne die Patient:innen jemals gesehen zu haben. Ihre Entscheidungsgrundlage war einzig und allein ein einseitiger Meldebogen. Wenn mindestens zwei der drei Ärzte mit plus entschieden, wurde der/die Patient:in anschließend in eine Tötungsanstalt verlegt und dort ermordet.
Eine dieser Tötungsanstalten war Hadamar, unauffällig gelegen im Kreis Westerwald in Rheinland-Pfalz. Große Ausschilderungen zur und über die Gedenkstätte sucht man auch in kleiner Entfernung vergeblich. Das Gebäude wirkt unscheinbar, zwischen Büroräumen und Seminarräumen befindet sich eine Ausstellung. Nach 30 Jahren wird sie in diesem Jahr erneuert. Nebenan gibt es eine Psychiatrie, die nach wie vor in Betrieb ist. Bis vor 7 Jahren waren sogar im Gebäude der Gedenkstätte selbst, also in der ehemaligen Tötungsanstalt, noch Patient:innen untergebracht. Die Gedenkstätte wirkt wuselig und unscheinbar. Das ändert sich rasant sobald man in den Keller des Gebäudes geht. Denn hier befanden sich vor 84 Jahren die Gaskammern, die Tische zur Obduktion und die zwei Öfen, in denen die Leichen verbrannt wurden. Alle Menschen, die von Januar bis August 1941 nach Hadamar kamen, wurden noch am gleichen Tag ermordet. Graue oder rote Busse, ausrangierte Postautos, transportierten bis zu 100 Menschen pro Tag aus verschiedenen Zwischenanstalten nach Hadamar. Den Opfern wurde erzählt sie würden verlegt und um den Schein aufrechtzuerhalten begann der Aufenthalt in Hadamar mit einer vermeintlichen Untersuchung. Dabei ging es jedoch allein darum herauszufinden, von welchen Opfern später die Gehirne für Forschungszwecke genutzt werden könnten. Schon bald danach ging es in den Keller, zu den vermeintlichen ›Duschen‹, den Gaskammern. Wenn alle Patient:innen in der Gaskammer waren, öffnete ein Arzt das Gas und ermordete dadurch innerhalb von fünf Minuten dutzende Menschen. Noch heute sind in Hadamar die Originalfließen erhalten. An den Wänden sieht man die Bohrlöcher, an denen die Gasleitungen befestigt wurden. Die Körper der Toten wurden anschließend auf die Obduktionstische gelegt, um ihnen ggf. Goldzähne herauszubrechen und Gehirne zu entnehmen. Auch einer der Tische ist noch im Original in diesen Räumen zu sehen. Anschließend wurden die Leichen über eine bestimmte Spur zu den Brennöfen gezogen, wo sie im halbstündigen Takt verbrannt wurden. Die Tötungsmaschinerie war an Effizienz kaum zu überbieten. Jeder Moment der Ermordungen war perfekt durchgeplant. In Hadamar bekommen diese Erzählungen Hand und Fuß.
Die Originalgaskammern zu sehen, in denen hier tausende Menschen ermordet wurden, hat eine andere Wirkung. Neben den Obduktionstischen zu stehen, erregt eine andere Betroffenheit. Sich die Verbrennungen der Leichen bildlich vorzustellen, sorgt für eine andere Bestürzung. Genau deswegen sind Gedenkstättenfahrten so wichtig. Sie halten die Erinnerung, die Bestürzung und die Emotionalität in uns lebendig.
1941 wurden in Hadamar circa 10.000 Menschen in den Gaskammern ermordet. Von 1942 bis 1945 folgte in Hadamar eine zweite Mordwelle, in der circa 5.000 Menschen durch verhungern lassen, Giftspritzen und/oder andere Medikamente ermordet wurden. Die Gaskammern kamen nicht mehr zum Einsatz, doch die Ermordungslogik setzte sich dennoch fort. Patient:innen kosteten Geld und Aufwand – deswegen galt es sie wegzuschaffen. In Hadamar wird das erlebbar. Durch Biografien, durch physische Orte, durch den Austausch und die Diskussion.
Nach 1945 gab es in Deutschland 438 Gerichtverfahren gegen Täter der T4-Aktionen. In 6,8% der Fälle wurde ein Urteil gesprochen. Verurteilungen waren die absolute Ausnahme. Der Großteil der Täter konnte nach einer kurzen Zeit wieder ihren alten Beruf ausüben, viele arbeiteten schnell wieder als Ärzte und/oder Professoren. Nicht wenige, wie beispielsweise Hans-Alois-Schmitz, ein zentraler T4-Gutachter, stiegen sogar weiter auf, übernahmen Forschungs- und Direktionsposten. Die Kontinuität der Stigmatisierung hat mit 1945 nicht aufgehört. Erst 1974 wurde das Gesetz ›zur Verhütung erbkranken Materials‹ aufgehoben. Opfer der Euthanasie waren aus sämtlichen Entschädigungszahlungen ausgeschlossen. Jede Form der Erinnerung und des Gedenkens an die Opfer erfordert viel Kampf. Erst seit 2014 ist beispielsweise die Tiergartenstraße 4 in Berlin eine Gedenkstätte. Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist auch heute alltäglich.
Auch deswegen sind Gedenkstättenfahrten nach wie vor so wichtig. Denn es braucht die aktive Beschäftigung mit diesen Taten, um sich auch heute aktiv dagegen stellen zu können. Denn um es in den Worten Olafs zu sagen, der uns in Hadamar durch den Ort geführt hat: »Die Geschichte können wir nicht mehr verändern. Aber wir sind es, die die Zukunft verändern können.«