Das ist die Lebensgeschichte von Elisheva Lehman.
»Ich bin immer fröhlich gewesen, das ist mir nicht weggekommen. Ich liebe mich selber. Aber das war nicht immer so. [...] Und ich habe gesagt: Jetzt werde ich von jedem Tag ein Festival machen.«
Einführung
Warten auf Bernie
Du kannst dich nicht konzentrieren, keinen klaren Gedanken fassen – denn auf dieser Bank sollst du endlich jemanden wieder treffen, den du seit langer Zeit nicht mehr gesehen hast: Bernie. Dein Blick schnellt von einer Person zur nächsten. Könnte er das sein, oder das?
Hat er sich verändert in der Zeit, in der du ihn nicht gesehen hast? Wirst du ihn wiedererkennen? Wie wird es sich anfühlen, wenn ihr euch gegenübersteht? Was sollst du sagen?
Du sitzt auf der Bank und wartest. Alles in dir ist angespannt. Was würdest du tun, wenn die Person, auf die du wartest, nicht kommen würde?
Was dich auf dieser Website erwartet
Dieses Gefühl, diese Bank, sie sind eng mit der Geschichte von Elisheva verbunden. Mein Name ist Lena, und ich möchte dir heute ihre Geschichte erzählen, denn ich bin ihre zweite Zeugin, ihre Zweitzeugin.
Ich werde dir von der Person erzählen, die sie auf der Bank treffen wollte – wer war Bernie? Warum waren sie gezwungen, sich zu trennen, für eine lange Zeit? Ich werde dir erzählen, was das Ganze mit einem Tagebuch zu tun hat, das erst verschwunden geglaubt ist, und dann zum verrücktesten Zeitpunkt wieder auftaucht. Und ich werde dir erzählen, was dazu führte, dass sich Elisheva und Bernie, die zwei Personen, die sich auf der Bank hätten treffen sollen, nicht mehr begegnen konnten.
Elisheva Lehman (geb. Cohen Paraira), auch Ellis genannt, ist Zeitzeugin der Diskriminierung, Verfolgung und systematischen Ermordung von als Juden*Jüdinnen Verfolgten durch die Nationalsozialist*innen im Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945. Ellis hat Dinge erlebt, die wir uns kaum vorstellen können. Sie hat Todesängste ausgestanden, aber auch immer wieder kleine Momente voller Glück erlebt. Ihre Geschichte hat sie mit uns, dem Verein ZWEITZEUGEN e.V., geteilt. Und ich teile ihre Erzählung als Zweitzeugin nun mit dir. Denn wir Zweitzeug*innen erzählen die Geschichten von Überlebenden des Holocaust weiter.
Wenn du dir diese Geschichte bis zum Ende durchliest, macht das auch dich zum*zur Zweitzeug*in von Elisheva. Dazu lade ich dich ein: Elishevas Geschichte zu lesen, sie weiterzuerzählen, sie zu teilen und sie nicht zu vergessen. Und damit aktiv zu werden gegen Ausgrenzung und Diskriminierung.
Elishevas Geschichte beginnt
Liebe unter widrigen Bedingungen
Vielleicht hat Ellis deswegen auch eine Vorliebe für das Schwimmen. Außerdem spielt sie leidenschaftlich gern Klavier und hat eine klare Vorstellung davon, wo es mit ihrem Leben hingehen soll: Sie will Schriftstellerin werden, oder Journalistin. Sie liebt ihre Muttersprache, das Niederländische, und ist gut darin, mit ihren Worten Bilder in den Köpfen ihrer Zuhörer*innen entstehen zu lassen.
In Scheveningen lebt Elisheva mit ihrer Familie. Sie hat einen Bruder, Bob. Ihr Vater ist Maler, ihre Mutter verstirbt früh an Krebs. Als ihr Vater später eine neue Frau kennenlernt, tritt diese als »Tante Mien« in Ellis Leben. Irgendwann wird sie für Ellis und ihren Bruder sogar zu »Mamschi«. Die Familie hält zusammen.
Besonders wichtig sind Elisheva Ihre Großeltern, sie wohnen im selben Haus. Wenn Ellis von ihnen erzählt, sagt sie vor allem zwei Dinge: Ihr Opa sei ein großartiger Geschichtenerzähler gewesen, die Leute mussten ihm einfach zuhören. Vielleicht rührt daher auch Ellis Talent. Und ihre Oma war »so hoch wie breit, mit einem riesen Busen. Eine richtige Knuffeloma«. – Zack! Da ist so ein Bild, das Ellis in den Köpfen entstehen lässt. Doch trotz aller Knuffeligkeit: Ellis Oma ist gleichzeitig eine strenge Erzieherin für die Kinder.
Das Kennenlernen
Ellis ist 17, es ist 1941, mitten im Winter. In dieser Zeit lernt sie jemanden kennen: Bernie. Bernie ist ein paar Monate jünger als Ellis, aber wirkt irgendwie älter. Ein intelligenter Typ, diskussionsfreudig. Er gefällt Ellis, klar, aber viel mehr ist da nicht – zunächst.
Die Umstände, unter denen sie sich kennenlernen, erschweren ihren Start. Es ist mitten im Zweiten Weltkrieg und da Bernie und Ellis jüdisch sind, haben sie kaum noch Rechte. Seit April dieses Jahres hängen die ersten ›Juden verboten‹-Schilder an öffentlichen Gebäuden, Restaurants und Cafés. Sich dort treffen: Unmöglich. Was machen die beiden also an einem freien Nachmittag? Glücklicherweise stellen die Eltern von Elisheva und Bernie ihre Häuser für junge Juden*Jüdinnen zur Verfügung, zum Tanzen, Musik hören, Diskutieren.
Bei den Eltern zu Hause, systematisch ausgegrenzt vom Rest der Gesellschaft: So lernen sich Elisheva und Bernie kennen. Romantik sieht anders aus. Und trotzdem: Irgendwann tut sich doch etwas zwischen den beiden.
»Am Anfang fand ich Bernie ein netter Junge. Aber er war sehr verliebt in ein anderes Mädchen. Und da wurde getanzt und diskutiert. Ich habe sehr viel von ihm gelernt. Aber es war überhaupt nix. Und eines Abends, als wir getanzt hatten zusammen – wir hatten schon öfter getanzt: Auf einmal spüre ich, dass er meine Haare streichelt und ich gucke ihn an und dann springt ein Funk' über. Und dann waren wir ein Paar.«
Und dann springt ein Funk’ über
So einfach kann’s manchmal gehen. »Ein Funk’«, wie Ellis das nennt. Plötzlich sind Elisheva und Bernie ein Paar und so Hals über Kopf verliebt, dass sie sich ihre Zukunft ausmalen. Wenn der Krieg vorbei ist, wollen sie heiraten. Und dann gehen sie nach Palästina, und bauen sich dort ein schönes Leben auf. Dorthin zu ziehen ist vor allem Bernies Traum. In dieser dunklen Zeit haben beide etwas, an dem sie sich festhalten können: Der Gedanke an eine gemeinsame Zukunft. Jemanden, der zu einem hält.
Ein halbes Jahr
»Und die Fahrräder wurden uns genommen, denn die Wehrmacht hat das gebraucht für die Kriegsführung in Russland, so haben sie gesagt. Ich hab schon vor mir gesehen, wie ein deutscher Soldat in der Steppe von Russland den Krieg gewinnt auf meinem Fahrrad.«
Mal einfach so, mal mit scheinheiligen Ausreden nehmen die Nationalsozialist*innen den als jüdisch Verfolgten ihr Hab und Gut. Kein Fahrrad, das bedeutet für Elisheva: Es wird noch schwerer von einem Ort zum anderen zu kommen.
Ein halbes Jahr sind Elisheva und Bernie nun zusammen. Ein halbes Jahr Glück, ein halbes Jahr voller Aufregung vor jedem neuen Treffen. Mit Momenten des Lächelns, bis es einem im Kiefer zieht. Ein halbes Jahr voller Küsse, Umarmungen, voller Diskussionen und Gespräche.
Eine folgenschwere Entscheidung
Eines Tages liegt ein Brief im Briefkasten, der Deportationsbescheid: Elisheva und ihr Vater sollen ins Deutsche Reich, angeblich um zu arbeiten. Vor ein paar Monaten hat Ellis Onkel selbigen Bescheid bekommen und hat die Niederlande verlassen. Nun kommt die Nachricht von den Nationalsozialist*innen: Der Onkel sei verstorben, an einer Blinddarminfektion.
Elisheva und Bernie wollen sich nicht trennen. Aber Elishevas Familie entscheidet sich für das Versteck. Sie wollen untertauchen, niemandem erzählen wo genau sie sind. Ellis und Bernie vereinbaren ein Treffen für eine Zeit nach dem Krieg, auf der Bank, von der wir am Anfang gelesen haben. Dann wollen sie endlich heiraten und nach Palästina gehen. Bis dahin wollen sie füreinander Tagebuch schreiben, und es sich irgendwie gegenseitig schicken. Eine andere Möglichkeit zu kommunizieren gibt es nicht.
Der Tag der Verabschiedung kommt. Die zwei wissen nicht, wann sie sich das nächste Mal sehen werden. Doch Ellis weiß: Das Versteck ist die einzige Chance, zu überleben, auch für Bernie.
»Dann haben wir verabredet, wir wollen füreinander Tagebuch schreiben. Ich habe gesagt: ›Du musst dich auch verstecken. Ich will dich zurück haben nach dem Krieg.‹ Am nächsten Morgen war er wieder da, dann haben wir uns verabschiedet. Dann habe ich ihn nie mehr gesehen.«
Im Versteck
Fast drei Jahre. 1040 Tage.
16 Jahre ihres Lebens hat Elisheva ganz normale Dinge getan. Sie ist schwimmen gegangen, in Scheveningen an der Nordsee, hat Freund*innen getroffen. Klavier gespielt, Bernie gesehen. Bereits die antijüdischen Gesetze haben ihr Leben verändert und nun, im Versteck, geht nichts mehr. Nicht vor Wut auf den Bruder laut mit der Faust auf den Tisch hauen. Nicht die Klospülung benutzen, zumindest nicht zu oft, sonst merkt noch jemand etwas.
Familie Cohen Paraira taucht unter, bis zum 5. Mai 1945.
»Stell Dir vor, das ist eine schrecklich spannende Zeit und wir waren Sturm und Drang. Wir waren Teenagers, mein Bruder und ich. Manchmal, als wir so still sein sollten, kam es zum Zusammenstoß mit Papa, der viel Angst hatte. Wir durften doch keinen Lärm machen und durften nicht lachen. Wir durften nichts machen.«
Ein Alltag in Angst
Es wird eng …
Vorsicht wird zum obersten Gebot. Bei der Familie Koistra, Elishevas letztem Versteck, läuft es so: Der Holzfußboden im Hinterzimmer lässt sich anheben, weil er nur mit einem Nagel festgemacht ist. Darunter ist ein wenig Platz zum Verstecken. Die Zange zum Öffnen liegt im Kinderwagen. Kommt eine Kontrolle, fährt also ein Auto der Nationalsozialist*innen vor, läuten die Koistras eine Klingel. 23 Sekunden dauert es, bis sich Elishevas Familie und die anderen Verfolgten, die bei den Koistras untergekommen sind, im Loch versteckt haben. Frau Koistra schiebt den Kinderwagen auf die losen Balken, und öffnet die Tür.
»Einmal dachte der SS-Mann: Es kann sein, dass unter dem Boden Juden sind. Im ganzen Haus hat er wie wahnsinnig mit seinem Bajonett in den Boden gestochen. Wenn ich Dir erzähle: Mein Bruder und ich saßen ein Zentimeter voneinander und genau dazwischen ist das Bajonett heruntergekommen. Nicht in mich oder ihn, genau dazwischen! Nur Glück hatten wir.«
… und enger
Es bleibt nicht die einzige Situation, in der Elisheva und ihre Familie beinahe entdeckt werden. Frau Koistra ist nicht da und ein Auto fährt vor. Es ist zu wenig Zeit – wer soll die Tür aufmachen? Was soll Herr Koistra sagen? Herr Koistra drückt Elisheva eine Schürze in die Hand: Sie soll so tun als wäre sie seine Krankenschwester. Er rennt hinauf ins Bett, und direkt hämmert es an die Tür: »Aufmachen!«
Die SS. Elisheva steht einem Menschen gegenüber, der sie töten würde, wenn er wüsste, dass sie jüdisch ist. Unter ihren Füßen ihre Familie. Ellis trägt eine schlechte Krankenschwester-Verkleidung und weiß: Wenn sie auffliegt, wird sie nicht überleben. Sie alle nicht.
Eine lebensrettende Eingebung
Ellis weiß auch: Das ging alles viel zu schnell, Herr Koistra hatte keine Zeit, sich sein Nachthemd anzuziehen, sich ins Bett zu legen, den Kranken zu spielen. Was soll sie tun? Ihr kommt eine Idee. Auf Grund des Krieges bekommt man keine Seife mehr. Aber Frau Koistra hat überall in der Wohnung Fläschchen mit Kreosol, einem Desinfektionsmittel, verteilt.
»Ich sag: ›Er ist oben, ich mach gleich das Zimmer auf.‹ und ich sehe das Schüsselchen mit dem Kreosol. Wenn man ängstlich ist, bist du viel intelligenter als normal. Ich tunk das Tuch in das Zeug und fange an, mir das stinkende Tuch vor den Mund zu halten. Und sag: ›Ach, vielleicht wollen Sie auch? Er hat Diphtheritis, schreckliche Krankheit. Wollen Sie auch ein Stückchen?‹ Also, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie schnell diese fünf Männer runter waren! 18 Tritte, weniger als acht Sekunden. ›Raus! Raus! Raus!‹«
Elisheva schließt die Tür, ihr Herz pocht. Sie geht die Treppe hinauf. Herr Koistra liegt im Bett – die Decke bis zu den Ohren gezogen, aber seine schweren Schuhe ragen darunter hervor.
Es wäre das Ende gewesen, wären sie zu ihm ins Zimmer gegangen, Elisheva weiß es. Sie fühlt sich wie taub. Als sie die Treppe heruntergehen will, machen ihre Beine nicht mehr mit. Sie kann sie nicht mehr bewegen. Drei Monate lang sind ihre Beine gelähmt vor Schock.
Lena, was meinst du: Wie war es für Elisheva im Versteck?
Es muss furchtbar gewesen sein. Also, überleg mal: Drei Jahre. Was habe ich alle in den letzten drei Jahren erlebt? Elisheva war fast drei Jahre im Versteck. Sie musste immer wieder umziehen. Konnte sich nicht frei bewegen, hatte Todesangst. Ganz ehrlich: Ich hatte noch nie in meinem Leben Todesangst.
Es ist einfach ein Szenario, das mit nichts, was ich bisher erlebt habe, vergleichbar ist. Ich finde das auch sehr wichtig, das so zu sagen. Klar kann ich empathisch sein und erkennen, was für eine grausame Zeit für sie war. Aber nachfühlen kann ich das natürlich nicht. Deswegen bin ich immer ein bisschen vorsichtig, wenn ich anderen als Zweitzeug*in erklären soll ›wie etwas für die Zeitzeug*in war‹.
Nach dem Krieg
Wird jetzt alles gut?
Es ist der 5. Mai 1945, und der Krieg ist vorbei. Etwa 20.000 als jüdisch Verfolgte haben in Verstecken in den Niederlanden überlebt – so auch Elisheva.
Ist jetzt der Zeitpunkt in dieser Geschichte erreicht, an dem sich Elisheva endlich auf die Bank setzt und Bernie wiedertrifft?
Als jüdisch Verfolgte in Verstecken in den Niederlanden
20.000 als Juden*Jüdinnen Verfolgte überleben in Verstecken – eine verschwindend geringe Zahl im Vergleich zu 104.000 Opfern, die beispielsweise in niederländischen Lagern oder auf der Flucht starben, sowie 107.000 Deportationen in Gettos, Arbeits- und Konzentrationslager.4, 5
Wir schreiben diesen einen Tag im Mai, in dem du gut im T-Shirt draußen sitzen kannst, Anfang Mai 1945. Ein einziges Mal hat Elisheva in den vergangenen Jahren von Bernie gehört, durch das eine Tagebuch, das sie erreicht hat. Danach hat er nicht mehr geschrieben. Sind die Tagebücher, die Ellis ihm geschickt hat, überhaupt bei ihm angekommen? Wenn er noch leben würde, hätte er sich doch bestimmt gemeldet?
Elisheva geht zur Bank. Jeden Tag, nach dem Krieg, nachmittags. Aber Bernie kommt nicht. Tief in sich drin weiß sie, dass er wahrscheinlich nicht mehr lebt. Er hätte sich gemeldet. Dass sie eine Zeit später noch einmal von ihm lesen würde, weiß sie in diesem Moment nicht.
Ein neues Leben
Was einem vor die Füße fällt
»Und dann guck ich in Augen, blau wie der Himmel. Ich bin eine gute Schwimmerin und da wollte ich nur eine Sache: Springen, in diese Augen, schwimmen und nie wieder herauskommen. [...] Ich war sehr verwundert, dass ich mich so schnell verlieben kann in einen anderen Mann. Ich schäme mich dafür, aber so war es.«
Elisheva ist eine kleine Romantikerin, man hört es schon. Und gleichzeitig hat sie ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Schließlich hat sie Bernie versprochen, dass sie nach dem Krieg wieder zusammen sein würden. Aber er hätte sich doch gemeldet, wenn er noch leben würde? Das Tagebuch geschickt, wie sie besprochen hatten? Er wäre doch zur Bank gekommen.
Es ist wie es ist – Elisheva ist verliebt. Der erste Kuss, die Verlobung, die Planung der Hochzeit – es geht alles ganz schnell, sie ist glücklich mit Elmar, so glücklich, gleich zwei Mal in ihrem Leben das Gefühl einer großen Liebe zu erfahren. Auch wenn sie das schlechte Gewissen plagt, wenn sie an Bernie denkt.
Ein überraschendes Hochzeitsgeschenk
Der Tag ihrer Hochzeit, der 12.12.1945, kommt – und mit ihm kommt Post. Ein kleines Päckchen, in ihm ein grünes, in Leder eingebundenes Heftchen. Elisheva traut ihren Augen nicht: Ein zweites Tagebuch von Bernie. An ihrem Hochzeitstag.
»Ich habe gedacht, ich werde ohnmächtig. Ich erinnere mich an nichts von meiner Hochzeit. Ich habe mich jahrelang beschämt gefühlt und ich habe das Tagebuch und das andere Heftchen und mein Tagebuch versteckt in dem Koffer, den ich mit nach Palästina genommen habe. Und ich habe es nicht mehr aufgemacht, bis zu dem Jahr, in dem Shula, meine Tochter, 60 wurde.«
Lena, was genau stand in Bernies Tagebuch?
Wie Elisheva es uns erzählt hat, wirkt es ein wenig einfacher, als es in Wirklichkeit wahrscheinlich war. Tatsächlich war es sehr gefährlich, als jüdischer Mensch auf der Flucht oder in Verstecken zu viele Details schriftlich festzuhalten. Das wusste auch Bernie. Ich habe mit Shula, Elishevas Tochter gesprochen, und sie hat mir erzählt, dass Ellis gar nicht zu 100% genau wusste, wie Bernie gestorben ist. Denn Bernie hat irgendwann aufgehört, Tagebuch für Elisheva zu schreiben. Wie gesagt, zu gefährlich.
In Auschwitz wäre es erst recht nicht möglich gewesen, Tagebuch zu schreiben und es heraus zu schmuggeln. Deswegen musste Elisheva nach Holland reisen und auf Spurensuche gehen. Dort hat sie erfahren, dass Bernie durch einen schrecklichen Zufall entdeckt und nach Auschwitz deportiert wurde.
So wie Elisheva ging und geht es vielen Menschen, deren Angehörige während des 2. Weltkrieges deportiert wurden. Manche haben bis heute keine gesicherten Informationen, was damals mit ihren Freunden oder Verwandten passiert ist.
Elishevas Geschichte endet
Nach Palästina ist Elisheva jedoch trotzdem gegangen. Mit Elmar, in eine erste gemeinsame Wohnung am Meer. Jeden Tag Schwimmen, das Rauschen der Wellen in den Ohren und den Geruch des Salzwassers: Elisheva ist glücklich. Und endlich an einem sicheren Ort.
Sie wird Musiklehrerin, bekommt Kinder, Enkel- und Urenkelkinder – und übersetzt irgendwann mit ihrer Tochter Shula die Tagebücher von Bernie und ihr. Mittlerweile kann man diese sogar als Buch, auf Niederländisch, kaufen.
Elisheva verstirbt 2021 in Israel. Sie hat ihre letzten Jahre im Senior*innenheim verbracht, lange noch Händchen haltend mit Elmar an ihrer Seite und mit den Gedanken an Bernie im Herzen. Sie bleibt vielen Menschen in Erinnerung: Durch ihre sprudelnde, lustige Art, durch ihr fantastisches Klavierspiel. Die »kleine, runde Kugel«, wie sie sich selbst bezeichnet hat, sie hat viele Menschen mit ihrem Mut und ihrer Fähigkeit, nie die Hoffnung zu verlieren, berührt.
Was bleibt?
Du bist jetzt Zweitzeug*in von Elisheva
Lena, was bedeutet dir Elishevas Geschichte?
Das letzte Kapitel steht ja unter dem Titel ›Was bleibt?‹. Ich habe mich intensiv mit Elishevas Geschichte beschäftigt, und ich muss sagen, sie hat mich sehr begleitet.
Für mich bleibt der Gedanke an eine mutige Person. Eine Person, die großes Leid durchstehen musste, und trotzdem nach der Zeit der Verfolgung »von jedem Tag ein Festival« machen wollte, wie Elisheva es selbst ausgedrückt hat.
Mir bleibt der Gedanke an Zivilcourage, z.B. von Familie Koistra, aber auch der Gedanke auch an die vielen Menschen, die nichts gegen die Judenverfolgung unternommen haben.
Dass Elisheva ihre Geschichte mit unserem Verein geteilt hat, bedeutet mir viel. Vielleicht geht es euch genauso und irgendetwas von Elishevas Geschichte bleibt auch für euch.
Nachdenken über Elishevas Lebensgeschichte
Was nimmst du aus dieser Geschichte mit? Wie hätte Ellis Leben ausgesehen, wenn sie nicht jüdisch gewesen wäre? Wenn sie Bernie auf der Bank getroffen hätte? Wie schafft man es, so lange in Angst in einem Versteck zu leben? Was macht das mit einer Person, so etwas erlebt zu haben? Und kann ein Mensch eine solche Zeit verkraften? Elisheva sagt dazu folgendes:
»Nein. Niemand kann das gut verkraften. Ich bin jetzt mehr als 60 Jahren nach dem Krieg. Wenn ich in der Nacht ein Auto halten höre, dann wache ich auf mit Herzklopfen: Jetzt kommt man mich holen. Denn Autos gab es nur bei den Nazis. Ich bin immer fröhlich gewesen, das ist mir nicht weggekommen. Ich liebe mich selber. Aber das war nicht immer so. Und ich habe gesagt: ›Jetzt werde ich von jedem Tag ein Festival machen.‹ Und ich werde mir ein Beispiel an den Koistras nehmen. Ich werde Leuten helfen, wo ich nur kann. Und das macht aus mir eine glückliche Person.«
Shula Lehman freut sich über deine Post
Shula ist die Tochter von Elisheva. Sie hat gemeinsam mit Ellis die Tagebücher geöffnet und übersetzt, und hat sich nicht nur deswegen intensiv mit der Geschichte ihrer Mutter beschäftigt.
Shula freut sich über deine Post. Hier hast du die Chance, ihr eine Mail schreiben. Was hättest du Elisheva gern gesagt? Was denkst du über ihre Geschichte? Ihre Tochter freut sich darauf, deine Gedanken zu Elishevas Geschichte zu lesen.
Quellenverzeichnis
- Jasch, Hans-Christian: Die Rassengesetzgebung im »Dritten Reich«. Mit einem Beitrag von Rüdiger Ernst, in: Magnus Brechtken et al. (Hg.): Die Nürnberger Gesetze. 80 Jahre danach, Vorgeschichte, Entstehung, Auswirkungen, Göttingen 2017, S. 165-204, hier S. 171-189.
- United States Holocaust Memorial Museum: Wer waren die Opfer des Holocaust? zit. nach URL: https://encyclopedia.ushmm.org/content/de/article/mosaic-of-victims-an-overview [19.08.2022].
- Happe, Katja: Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940-1945, Paderborn 2017, S.100-193.
- Happe, Katja: Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940-1945, Paderborn 2017, S. 195, 244-245.
- Dies.: Das Ende in Sicht. Das letzte Jahr der Besatzungszeit und die Befreiung, zit. nach URL: https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/judenverfolgung/ende.html [19.08.2022].
- Asseburg, Muriel / Busse, Jan: Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 10006), Bonn 2018, S. 14-19.
- Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941-1945 (Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz, Bd. 3), München 2000, S. 203-206, 285-293.
Lena, warum bist du Zweitzeug*in?
Ich finde das wichtig, die Geschichten von Zeitzeug*innen zu hören, weil so ganz deutlich wird, dass hinter abstrakten Begriffen wie dem ›Holocaust‹ Schicksale stecken. Millionen von ihnen. Unter anderem das von Elisheva.
Als Zweitzeug*in erzähle ich ihre Geschichte weiter, um an sie zu erinnern. Daran wie sie war. Was die Verfolgung während des Zweiten Weltkrieges mit ihr gemacht hat. Und ich hoffe, dass ihre persönliche Geschichte Menschen daran erinnert, was Antisemitismus bedeutet. Und daran, dass wir uns aktiv, jeden Tag, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung einsetzen müssen.
Ich würde mich freuen, wenn du ebenfalls Lust hast Zweitzeug*in werden. Und zwar indem du dir Elishevas Geschichte bis zum Ende auf dieser Website anschaust und ihre Geschichte weitererzählst.